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Zeit
cinegeek.de - wrote on 03/22/16
Die zweite Szene in Boyhood deckt sich mit dem Motiv des Kinoplakats: Eine Junge liegt auf dem Rasen. Es ist Mason, Jr. (Ellar Coltrane). Er spricht nicht und es gibt auch keinen Erzähler aus dem Off; so können wir nicht wissen, was er gerade denkt. Darum geht es aber auch nicht in Boyhood. Der Film betrachtet das Leben, unsere flüchtige Existenz an sich. Richard Linklater bekam ungeheure mediale Aufmerksamkeit dafür, dass er dieses Projekt über zwölf Jahre mit demselben Hauptdarsteller verfolgte (die Eltern Olivia und Mason werden dargestellt von Patricia Arquette und Ethan Hawke, die Schwester von Lorelei Linklater, der Tochter des Regisseurs). Wir sehen zu, wie Mason aufwächst und seine Eltern langsam dick und grau werden. Olivia und Mason leben in verschiedenen Beziehungen nach ihrer Trennung. Olivia versucht ihren Ehemann zu ersetzen, um ihre "kaputte" Familie zu reparieren. Das treibt sie in eine Reihe von Beziehungen, die ihr nicht gut tun, manchmal sogar schrecklich verlaufen. Mason Sr. geht einen anderen Weg, arbeitet in einer Reihe von Jobs und lebt wie ein Bohemian freien Geistes. Mason Jr. wächst heran, beginnt sich für verschiedene Dinge wie Sex zu interessieren und schliesslich sprechen sie darüber, welches College er besuchen will und wie er sich sein Leben wünscht. Alles ist verschwommen. Schon oft sahen wir Serienhelden im Kino altern, jedoch nie so kompakt. Das macht Boyhood einzigartig! Linklaters Film, ein echtes Original, vollkommen eigenständig! Mason ist ein Scheidungskind. Seine Mutter und er ziehen oft um in Texas. Sein Vater hat kein Sorgerecht, weshalb er oft über hunderte von Kilometern fahren muss, um seine Familie zu sehen. Olivia und Mason Sr. lieben ihre Kinder, obwohl sie manchmal auch bereuen, dass sie so oft hinter ihnen zurückstecken mussten (Linklater erklärt uns aber den Trick, dass sie damit nur gesellschaftlichen Bedingungen folgten). Der gesellschaftliche Rahmen nimmt einen wesentlichen Teil von Boyhood ein und erlaubt die grossen Fragen des Lebens: Was macht uns "normal"? Wann sind wir Kinder, wann Männer? Ist das klassische Arrangement, Mann, Frau, Kinder und ein Haus tatsächlich wünschenswert für jeden von uns? Oder ist der freie Wille darüber nichts als eine Illusion? Olivia ist wie viele alleinerziehende Mütter entmutigt, ob der vielen Möglichkeiten. Sie jagt der Idee von "Normalität" hinterher, die möglicherweise gar nicht funktioniert für sie. Dabei arbeitet sie als Professorin - und dennoch: Olivia scheint gefangen im Konzept von "Familie". Mason versteht mehr, wenn er seine Mutter zurechtweist: "We already have a family!". Er hat Recht! Von beiden Eltern ist Olivia immer die Verantwortliche, die "Langweilerin". Selbst ihre schlimmsten Entscheidungen entstanden aus dem guten Willen für ihre Familie, wobei Olivia nicht verinnerlicht, dass eine gute Mutter eben Frieden braucht. Wie betrachtet Linklater die Welt der Männer? Männlichkeit ist eine Fortsetzung von "Boyhood" nur mit Führerschein und Einkommen. Mason Sr. ist ein guter Spielkamerad für seine Kinder, doch er erreicht keinen besonderen Grad an Klugkeit in seinem Leben. Ironischerweise fordert er regelmässig "echte" Unterhaltungen mit den Kindern ein. Die Erziehung von Mason aber gelingt beiden. Wir erleben Mason, wie er in der Schule konfrontiert wird, keine "Pussy" zu sein und das zurückweist. Es wird nicht erklärt, Wie und Warum (dafür ist Linklaters Film zu intuitiv), aber er scheint die besseren Eigenschaften seiner Eltern aufgenommen zu haben. Mason lässt sich nicht unter Druck setzen. Linklaters Dramaturgie gleicht im Grunde einer Sammlung von aufeianderfolgenden Kurzfilmen. Er verwendet keine zeitlichen Angaben, wir merken nur, wie Mason grösser wird, seine Haare anders trägt oder jemand einen Kommentar zum Irak-Krieg gibt. Das Herz von Boyhood, das ist sein Umgang mit der Zeit. Alles in diesem Film dreht sich letztlich um Zeit. Wenn es eine Erklärung für das Leben gibt, dann die, dass alles flüchtig ist. Haben wir nicht eben noch die Szene ganz am Anfang des Films gesehen, in der die junge Familie aus ihrem Haus auszieht? Wir ertappen uns dabei, eine alte Frage zu stellen: Wo ist die Zeit nur geblieben?